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Tagung "Arm trotz Erwerbsarbeit - Working Poor in Österreich"

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Tagungsunterlagen
... Link zur Seite "Working poor" des Fachbereichs Arbeits-, Wirtschafts- und Europarecht
Interview mit Clemens Sedmak
... "Wenn 2000 Euro kaum zum Leben reichen"
Tagungsbericht
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Viel zu viele Menschen sind heute, ob mit oder ohne Erwerbstätigkeit, nicht in der Lage, einen adäquaten Lebensunterhalt zu haben, stellte AK-Direktor Gerhard Schmidt in seinen Eröffnungsworten zur Tagung „Arm trotz Erwerbsarbeit – Working poor in Österreich“ fest. Auch Rektor Heinrich Schmidinger unterstrich in seiner Eröffnungsrede die steigende Bedeutung dieses Phänomens, das quer durch alle Schichten geht und auch zunehmend Akademiker/innen betrifft, im besonderen aber Alleinerziehende, Frauen, Migrant/innen. Diese Tagung, die in Kooperation von Universität Salzburg (Schwerpunkt Recht, Wirtschaft, Arbeitswelt und Zentrum für Ethik und Armutsforschung) und AK Salzburg am 09. November 2011 in der Edmundsburg stattfand, nahm die Lage derjenigen in den Blick, die trotz Erwerbsarbeit nicht in der Lage sind, einen solchen adäquaten Lebensunterhalt zu verdienen.
Referate
Henning Lohmann (Universität Bielefeld / DIW Berlin) eröffnete mit einem europäischen Vergleich der Armuts- bzw. Armutsgefährdungsquoten von Erwerbstätigen. Die Armutsgefährdung anhand des persönlichen Brutto-Erwerbseinkommens steht stark mit der Teilzeitquote im jeweiligen Land in Relation. Faktoren des Haushaltskontextes (Bedarf, weitere Erwerbseinkommen), Besteuerungen und Sozialtransfers, die vom persönlichen Bruttoerwerbseinkommen zum – aus EU-SILC bekannten – äquivalent gewichteten Haushaltsnettoeinkommen führen, wirken sich auf die Armutsquote in den verschiedenen Ländern aber sehr verschieden aus. Das Verhältnis von Markt, Staat und Familie zeigt länderspezifische Unterschiede; so wirkt der Faktor Haushalt oder Familie zum Beispiel in Nord- und Westeuropa eher armutsreduzierend, in süd- und osteuropäischen Ländern ist das Gegenteil der Fall. Gründe dafür könnten in einer hohen Arbeitslosigkeit junger Menschen ebenso zu sehen sein wie in kulturellen Unterschieden darin, wie „Familie“ aussieht und gelebt wird. Auch wenn sich für Ländergruppen Tendenzen ausmachen lassen, lässt sich doch in der Entwicklung zwischen 1994 und 2008 laut Lohmann auch auf nationaler Ebene kein einheitlicher Trend ausmachen. Am Beispiel Deutschland lässt sich aber zeigen, dass zu- nehmende Niedriglohnbeschäftigungen, v.a. auch immer häufiger in der Bedeutung als Haupterwerbsquelle von Haushalten, zusammen mit einem allgemein steigenden Armutsrisiko die Zahl der working poor-Betroffenen steigen lässt.
Hannes Winner sprach darüber, welche Auswirkungen eine globalisierte Welt auf die Lohnentwicklung in unterschiedlichen Ländern hat, ob Globalisierung den Druck auf den Faktor Arbeit erhöht. Winner vergleicht auf europäischer Ebene Multinationale Unternehmen (MNEs) mit Nationalen Unternehmen (NEs) aus Gewerbe und Industrie in Hinblick darauf, wie sich die Löhne zueinander verhalten. Mittels Propensity Score Matching werden ähnliche Unternehmen identifiziert, gruppiert und schließlich verglichen. Für das Thema working poor fokussiert Winner insbesondere auf das untere Quartil, die niedrigen Löhne. Im europäischen Vergleich zeigt sich, dass MNEs zwar generell in Westeuropa höhere und in Osteuropa geringere Durchschnittslöhne zahlen als NEs, es zeigt sich bezogen auf die niedrigen Einkommen aber, dass sich dies umkehrt und MNEs in Osteuropa ein höheres Lohnniveau bieten als NEs. Was Internationalisierung in Hinblick auf working poor bedeutet, ist also für Europa nicht einheitlich zu beantworten. Während MNEs in Westeuropa das Lohnniveau eher drücken und die working poor-Problematik somit eher zunehmen dürfte, führt die Entwicklung, dass Unternehmen als low cost seeker ihre Produktion in osteuropäische Länder verlagern, dort eher zu höheren Löhnen. Dass dies Fragen ethischer Art aufwerfen kann, wurde in der Diskussion zumindest angesprochen.
Eine geschlechtsspezifische Betrachtung von Niedriglohn, sozialen Lagen und Armutsgefährdung in Österreich lieferte Birgit Buchinger (Solution Salzburg). Buchinger zieht als Resümee zum Status Quo in Österreich, dass Frauen strukturell und sozioökonomisch beharrlich benachteiligt sind und werden. Traditionelles Erwerbsverhalten einerseits, besondere soziale Lagen andererseits bedeuten für sie bereits im aktiven Erwerbsleben ein erhöhtes Armutsgefährdungsrisiko. Zu den working poor zu zählen, ist für Frauen nicht nur aufgrund von Teilzeitjobs häufige Realität, sondern auch bei Vollzeitbeschäftigung. Während Männer sich meist nur temporär in Niedriglohnjobs – wie Minijobs, Mehrfachbeschäftigungen, Saison- und Leiharbeit, aber auch schlecht bezahlte Teil- und Vollzeitjobs – befinden, identifiziert Buchinger dies bei Frauen oft als einen verstetigten Zustand und immer mehr als soziologische Normalität. Aus einer Untersuchung zur sozialen Lage und Armutsgefährdung von NiedrigverdienerInnen im Bundesland Salzburg kommt sie zu Maßnahmenempfehlungen, die sowohl die kontinuierliche statistische und sozialwissenschaftliche Beobachtung und Berichterstattung von Armut insgesamt und working poor im Speziellen betreffen als auch auf die gesellschaftspolitische Ebene abzielen. Neben steuer-, wirtschafts-, beschäftigungs- und arbeitsmarktpolitischen sowie lohnpolitischen Maßnahmen spricht Buchinger dabei auch Maßnahmen an wie zur Schließung des Gender Pay Gaps, zum Aufbrechen traditioneller Rollenbilder inkl. Berufswahlverhaltens, Anstrengungen zur Verbesserung der Lebenssituation von MigrantInnen und AlleinerzieherInnen sowie die Sicherung von bedürfnis- und bedarfsorientierten, existenzsichernden Mindestansprüchen. Wichtig ist für sie – im Rahmen dieser Tagung durchaus anknüpfend an Henning Lohmann – die Bewusstseinsbildung zur Bedeutung von Haushaltseinkommen und sozialen Transfers.
Welche rechtlichen Ansätze und Herausforderungen es gibt, um Armut trotz Erwerbsarbeit zu bekämpfen, war Thema von Walter J. Pfeil (Universität Salzburg). „Wer arbeitet, soll auch essen“ – dieser Grundsatz gilt trotz diverser Vorkehrungen in Arbeits- wie Sozialrecht oft nicht mehr. Arbeitsrechtlicher Vorkehrungen wie Kollektivverträge, Satzungen (also behördliche Ausweitungen eines Kollektivvertrags auf nicht erfasste Arbeitgeber, z.B. BAGS) und Mindestlohntarife gelten nicht für alle ArbeitnehmerInnen, gerade working poor-Risikogruppen wie freie Mitarbeiter, kleine Selbständige, Trainees sind darüber nicht erfasst. Das Sozialrecht soll einen Ausgleich für ausgefallenes Erwerbseinkommen durch Geldleistungen schaffen. Obwohl es Sozialleistungen gibt, die – etwa im Rahmen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung (BMS) oder im Kombilohn-Modell – trotz oder auch zusätzlich zu Erwerbsarbeit erbracht werden, ist es so, dass das eine das andere tendenziell ausschließt, dass Zuverdienstmöglichkeiten eng begrenzt sind, und dass in diesem System insgesamt wenig positive Anreize zur Aufnahme oder Fortsetzung einer Erwerbsarbeit zu erkennen sind. Pfeil sieht Ansatzmöglichkeiten darin, Arbeitsanreize problemgruppenspezifisch auszubauen, Niedrigeinkommen-BezieherInnen bei Sozialversicherungsbeiträgen zu entlasten, Familienleistungen besser abzustimmen und zu staffeln, niedrige Einkommen nicht über Sozialleistungen sondern über das Steuerrecht (Bsp. Working Tax Credit) aufzustocken. Arbeits- und Sozialrecht hinken den Entwicklungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Arbeitswelt nach, die klassischen Instrumente wie Kollektivvertrag und Pflichtversicherung bedürfen einer Adaption, um armutsfest zu werden. Gewerkschaften sollen sich nicht nur auf die „ArbeitnehmerInnen-Kernschichten“ beschränken. Wirtschaft und Politik sollten sehen, dass in entsprechenden Maßnahmen eine Chance liegt: nämlich auf soziale Integration wie auch auf Stärkung der Kaufkraft. Schließlich: LeistungsträgerInnen sind laut Pfeil jedenfalls alle, die arbeiten.
Marcel Fink (Universität Wien) sprach über working poor als sozialpolitische Herausforderung. Zunächst geht es Finks um das „problem-framing“, also um die Art und Weise, wie Wissenschaft, Politik und Bevölkerung das Problem bestimmen und wahrnehmen. Für die Wissenschaft gilt, dass die unterschiedlichen Erklärungsansätze für Armut und Ungleichheit klar auf der Bedeutung von Erwerbsarbeit aufbauen. Auch in der Politik ist Beschäftigung zentrales Thema, neuerdings aber nicht nur in der Quantität, sondern auch in der Qualität der Jobs. Am Eurobarometer zeigt sich, dass Erwerbsarbeit auch von der Bevölkerung als eines der wichtigsten Themen angesehen wird. Trotzdem zeigt sich immer mehr, dass Erwerbsarbeit Teilhabe am „gesellschaftlich üblichen“ Lebensstandard per se nicht garantiert. Fink zeigt anhand österreichischer Zahlen, wie sich Steuern und Abgaben, der Haushaltskontext und schließlich Sozialtransfers auf die jeweilige Situation von Frauen bzw. Männern auswirkt; hier wird deutlich, dass der Haushaltskontext zu einer beträchtlichen Reduktion der working poor bei Frauen, aber zu einer deutlichen Erhöhung bei Männern führt, während Steuern und Abgaben bzw. Sozialtransfers sich ähnlich erhöhend oder reduzierend auswirken. Fink sieht working poor in Österreich als Ausdruck eines mehrfachen Verteilungsproblems bei Lohn (und Bewertung von Tätigkeiten), Arbeit und Arbeitszeit, sozialpolitischen Interventionen sowie anderen Einkommen (finanz- und Immobilienvermögen) bzw. dessen Besteuerung. Gleichzeitig agiert die politische Steuerung pfadabhängig und eher mit schrittweiser Anpassung als mit strukturellen Reformen. Das Phänomen working poor wird, so Fink, heute tendenziell vermehrt auf die politische Problemagenda gestellt. Angesichts der gesellschaftspolitischen Sprengkraft des Problems ist es notwendig, es weniger verhalten zu diskutieren. Notwendig wäre laut Fink ein breiter und substanzieller Diskurs zu „Gerechtigkeit“.
Warum working poor auch als ethisches Problem zu sehen ist, darum ging es im Vortrag von Clemens Sedmak (Universität Salzburg / King's College London). Armut trotz Erwerbstätigkeit kann insofern zu einem Problem für die Betroffenen geraten, als deren Selbstachtung in dieser Situation verletzt wird. Menschen werden als Sachen behandelt oder unsichtbar gemacht, erfahren wiederholt Demütigungen, müssen gegen ihren Willen und ihre Überzeugung agieren. Selbstachtung, laut Avishai Margalit das Pendant zur Menschenwürde, ist in working poor-Arbeitsverhältnissen nicht ungefährdet. Working poor ist aber nicht nur ein Problem für die oder den Einzelnen. Es ist auch ein Problem der Gesellschaft, die ihre zentralen Versprechen nicht mehr ausreichend einzulösen imstande ist: dass gute (Aus-)Bildung entsprechende Chancen öffnet; dass Leistung und Fleiß mit einem sicheren Job belohnt wird; dass in der Vorsorge auf staatliche Leistungen zu vertrauen ist; dass es Sicherung gibt. Ethische Relevanz kommt working poor auch in Hinblick auf soziale Kohäsion zu, da sich daran Konfliktlinien öffnen und die Zonen der Arbeitsgesellschaft (R. Castel) weiter auseinanderdriften – Sprengstoff für den sozialen Zusammenhalt. Als ein Ärgernis bezeichnet Sedmak working poor aus drei Gründen: erstens ist es in einem Camus’schen Sinn absurd, zu arbeiten und trotzdem nicht auszukommen; zweitens widerspricht es in Ursachen und Auswirkungen jedem Gerechtigkeitsempfinden, drittens schaden zu niedrige Löhne dem Gemeinwesen, da sie sich auch auf die Bereitschaft für soziales Engagement negativ auswirken können. Zusammengefasst: “Working poor tend to do poor work in poorly functioning societies.”
Podiumsdiskussion
In der die Tagung abschließenden Podiumsdiskussion mit Bundesminister Rudolf Hundstorfer, Landesrätin Cornelia Schmidjell, Rolf Gleißner (Wirtschafts-kammer), Bernhard Achitz (ÖGB) und Michaela Moser (Armutskonferenz) unter Moderation von Michael Mair (ORF) wurden einige der in den Vorträgen angesprochenen Punkte noch einmal aufgegriffen und vertieft. Etwa die Notwendigkeit, das Thema working poor hoch oben auf der politischen Agenda anzusiedeln und sich von der Annahme zu verabschieden, Erwerbsarbeit sei das beste Mittel gegen Armut (eine Annahme, die sich auch für Bildung als immer brüchiger erweist). Nicht die Beschäftigungsquote allein sei ausschlaggebend, sondern man müsse fragen, was für Beschäftigungsverhältnisse das sind. Genau hinzuschauen ist bei Teilzeitjobs, nicht nur was die (Un-)Freiwilligkeit betrifft, sondern auch das tatsächliche Stundenausmaß: Teilzeit kann 10 oder 20, könnte aber auch 30 Stunden bedeuten. Im Zusammenhang mit der BMS wurde auf die Notwendigkeit weiterer arbeitspolitischer Maßnahmen für jüngere BMS-BezieherInnen sowie BerufseinsteigerInnen, aber auch für (potentielle) ArbeitnehmerInnen mit Behinderungen, chronischen Krankheiten oder mangelnder Bildung verwiesen. Für Bereiche, in denen kein „ortsüblicher angemessener“ Lohn vorgesehen ist, braucht es einen gesetzlichen, an Kollektivverträgen bemessenen Mindestlohn.
Daneben waren auch kritische Worte dem Sozialstaat gegenüber zu hören, der weniger Mittel in Sozialleistungen und Umverteilung investieren sollte, sondern mehr in Sachleistungen und Bildung. Das Problem working poor könne auch anders als nur in der Verantwortung von Politik und Wirtschaft gesehen werden, auch die Einzelnen in der Gesellschaft müssten ihrer Verantwortung gerecht werden und zu gehaltenen Versprechen beitragen. Angesprochen wurde ebenso das Problem Schwarzarbeit und hier wiederum der größte Markt: die privaten Haushalte.
Politische Verantwortung habe die Einführung der BMS zum Teil bewiesen: es sei schon viel passiert, aber noch nicht genug und Unter- schiedliches in den unterschiedlichen Bundes ländern. Genaueres werde ein Monitoring zur Umsetzung und Wirkung der Maßnahme zeigen. Politische Verantwortung sei auch gefordert, wenn es um den erschreckend hohen Anteil der Invaliditätspensionen geht. Um die Lage der insbesondere von working poor betroffenen Frauen zu verbessern, braucht es auch Betriebs- und Gemeindeinitiativen, etwa im Bereich der Kinderbetreuung und der Pflege. Dabei sei aber wieder die Frage, ob in den Bereichen Haushalthilfe, Sorge-Arbeit, Betreuung qualitätsvolle Arbeitsplätze entstehen können und wo dann die die Vollzeitplätze für die somit freigestellten Frauen wären. Fragen, von deren Bewältigung man weit entfernt sei.
Als Fazit lässt sich ziehen, dass working poor ein Problem mit vielen Dimensionen ist, dem man nicht beikommt, wenn man es zu eng fasst, das aber dringend wahrzunehmen ist als das gravierende Problem, das es ist.
Text von Elisabeth Kapferer
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